Herr Dr. Kiesl, was steckt hinter der App „Heartfish Uro-Oncology“? David Kiesl: „Heartfish Uro-Oncology“ ist ein zwölfwöchiges digitales Trainingsprogramm speziell für uro-onkologische Patient*innen in fortgeschrittenen Stadien der Erkrankung. Dabei haben wir, ein Team aus Sportmediziner*innen und Kliniker*innen, uns eine Trainingsapplikation der Heartfish GmbH zum Vorbild genommen, die bereits in der Cardiorehabilitation erfolgreich eingesetzt wird. Gemeinsam mit den Expert*innen der Firma Heartfish sowie in Kooperation mit der oberösterreichischen Krebshilfe haben wir diese für unser Patient*innenkollektiv adaptiert. Grundsätzlich möchten wir diese Technologie für Krebspatient*innen nutzbar machen, mittelfristig zum Beispiel auch für Brust- oder Darmkrebsbetroffene. Mit den Spezifika für die Uro-Onkologie haben wir begonnen.
Was ist das Besondere an diesem Trainingsprogramm?
Das sind zwei Aspekte. Einerseits, dass es auf diese Indikation zugeschnitten ist, und andererseits, dass es in der Lage ist, die Patient*innen angepasst an ihren momentanen Allgemeinzustand und ihre jeweiligen Symptomatiken durch das Training zu leiten. Wir haben uns intensiv damit befasst, wie das digital möglich ist. Das beginnt zum Beispiel schon mit einer gründlichen Einschulung im technischen Umgang mit dem Programm direkt über die App. Anfangs wird auch die Sinnhaftigkeit des Trainings erklärt und wie man es mit einer onkologischen Erkrankung umsetzt. Integriert sind zudem zahlreiche aufklärende Inhalte zur Erkrankung selbst und zu den möglichen behandlungsbedingten Nebenwirkungen wie etwa der Cardiotoxizität von Chemotherapien. Die Nutzer*innen lernen unter anderem, welche Rolle die Herzfrequenz beim Training spielt, wie man diese errechnet, was ein moderates und was ein intensives Training ist und derlei Dinge. Zusätzlich hat die Krebshilfe diätologische und psychoonkologische Inhalte beigesteuert. Alles in allem führt die App die Menschen an die Grundsätze der Trainingslehre heran, bietet die konkreten Übungen und Maßnahmen an, erläutert diese und stärkt allgemein die Gesundheitskompetenz. Letztere ist ganz wesentlich, damit die Patient*innen selbstständig mithilfe des Programms ein aufbauendes Training durchführen können.
„Aber das Tolle an der App ist ja auch, dass sie sich intuitiv steuern lässt.“
Vorausgesetzt, der Wille zum selbstständigen Agieren besteht bei den Nutzer*innen – was sind die Vorteile eines digital gesteuerten Trainings?
Individuelle sportmedizinische Betreuung ist sehr aufwändig und kostet alle Beteiligten viel Zeit, die Patient*innen ebenso wie die Institutionen. Darum haben wir nach einer digitalen Möglichkeit gesucht, die auf sportmedizinischer Evidenz basiert und die Nutzer*innen optimal unterstützt. Das ist uns mit dieser Applikation gelungen. Sie ist ein Gesamtpaket aus wesentlichen Elementen, die ideal zusammenspielen. Man darf sich das auch nicht so vorstellen, dass die Patient*innen nun komplett alleingelassen sind. Der Wissensaufbau, die Aufklärung, die Einschulung, all das ist natürlich ein eminent wichtiger Faktor, nicht zuletzt für die Motivation. Aber das Tolle an der App ist ja auch, dass sie sich intuitiv steuern lässt. So erkundigt sich das Programm etwa tagesaktuell nach dem Befinden, und ist dies beispielsweise von Fatigue geprägt, bietet es die entsprechenden Maßnahmen an. Die Patient*innen bekommen immer die adäquaten Auswahlmöglichkeiten, abhängig von Symptomatiken und Verfassung. Gekoppelt an einen Brustgurt, misst die App auch Vitalparameter wie Herzfrequenz und Blutdruck. Aber natürlich funktioniert sie nur so gut, wie die jeweilige Person mitmacht. Das ist allerdings auch im nichtvirtuellen Raum so.
Was ist der Unterschied zwischen präventivem und therapeutischem Bewegungstraining?
Hier wie da geht es um gezielte Maßnahmen, die den individuellen Ausgangszustand verbessern. Das ist immer ein dynamischer Prozess. Aber bei Gesunden, die präventiv trainieren, ist der grundsätzliche Fitness- und Leistungszustand natürlich ein anderer als bei Erkrankten. Somit setzt dessen Aufbau bei Letzteren an einem anderen Level an. Auch die Ziele unterscheiden sich. Bei einer Krebserkrankung geht es nicht zuletzt darum, therapiebedingten Nebenwirkungen wie Erschöpfungszuständen, Depressionen, Lymphödemen oder Polyneuropathien etwas entgegenzusetzen. Hier kommen die Erkenntnisse der Sportmedizin ins Spiel, die erforscht, wie sich die unterschiedlichen Trainingsinterventionen auf den Körper auswirken. Sind beispielsweise die Nerven beeinträchtigt, wie es bei Polyneuropathie der Fall ist, setzt man auf die postiven Effekte von sensomotorischen Übungen. Harninkontinenz wiederum erfordert ein gezieltes Funktionstraining, Osteoporose ein bestimmtes Ausmaß an Krafttraining. Auch für Fatigue gibt es spezifische Formen der Bewegungstherapie. Man sagt also nicht, Hauptsache Bewegung, dann wird es schon besser werden, sondern man sieht sich ganz genau an, was in welchen Fällen hilft und welche Trainingskombinationen es jeweils in welchem Umfang und in welcher Intensität braucht. Es ist nicht der Sinn der Sache, dass jede*r das Gleiche macht, sondern man muss das Training flexibel an die Person und ihre Ziele anpassen.
„Die positiven Auswirkungen von Training auf onkologische Erkrankungen sind wissenschaftlich weitreichend belegt.“
Warum ist Bewegung für Krebspatient*innen gut?
Die positiven Auswirkungen von Training auf onkologische Erkrankungen sind wissenschaftlich weitreichend belegt. Studien zeigen, dass Sport und regelmäßige Bewegung helfen, die Leistungsfähigkeit zu erhöhen, wodurch schon einmal die Lebensqualität steigt. Und wie vorhin geschildert lassen sich die Nebenwirkungen von Therapien dadurch mildern. Man kommt insgesamt mit den Begleiterscheinungen der Erkrankung und der Behandlung besser zurecht. Viele Daten weisen auch darauf hin, dass die Leistungsverbesserung einen Einfluss auf den Verlauf der Erkrankung hat und sogar die Mortalität und die Rückfallrate senken kann. Das Aktivitätsniveau der Betroffenen systematisch aufzubauen macht also wirklich einen Unterschied.
Was ist, wenn jemand zu schwach ist?
Die Fatigue, dieses Schwächegefühl, ist kein Grund, der gegen das Training spricht. Im Gegenteil, diese verbreitete Nebenwirkung von Krebsbehandlungen sollte sich ja dadurch verbessern. Es kommt aber darauf an, welche Reize man setzt. Diese muss man natürlich an den Ist-Zustand anpassen und diesen dann langsam aufbauen. Im Zuge der Schulungselemente der App geben wir das den Patient*innen auch mit. Sie sollen verstehen, dass ihr Leistungsniveau unter einer Chemotherapie ein anderes ist als davor und dass sie unter Umständen mit einer Runde ums Haus prozentuell gesehen fast ebenso viel leisten wie bei einer Fünf-Stunden-Wanderung in gesunden Tagen. Und dass Bewegungstherapie nicht gefährlich oder abträglich ist. Wir möchten jede*n ermutigen, sich da drüberzutrauen.
Ist Sport in der Onkologie etwas Neues?
Es hat sich diesbezüglich schon viel getan, aber tatsächlich hat Sport in der Onkologie einen steinigen Weg hinter sich. Bis ungefähr zum Jahr 2000 hat man onkologischen Patient*innen vom Sport abgeraten, auf Schonung gesetzt und sogar ungünstige Effekte befürchtet. Dies wurde in zahlreichen Studien widerlegt und es besteht mittlerweile internationaler Konsens über die großartigen Benefits der Bewegungstherapie. Dennoch sind wir noch lange nicht dort, wo wir sein sollten: nämlich dass dies allen Patient*innen bewusst ist und sportmedizinische Interventionen von allen Ärzt*innen empfohlen werden. Dazu gibt es noch zu viele Unsicherheiten auf beiden Seiten. Im Aufklärungsteil unserer Applikation ist es uns daher auch ein wichtiges Anliegen, diese Unsicherheiten auszuräumen. Sport, besonders abgestimmt auf das individuelle Leistungsniveau, ist immer gut. Auch bei Krebs.
Wann wird die „Heartfish-Uro-Oncology“-App für alle Patient*innen verfügbar sein?
Wir hoffen, dass dies noch in diesem Jahr passiert, idealerweise im Herbst.
Im April hat die „Heartfish-Uro-Oncology“-App den Join4Care-Award des forschenden Pharmaunternehmens MSD bekommen, das ist der größte onkologische Innovationspreis in Österreich. Was bedeutet Ihnen diese Auszeichnung als Projektleiter?
Sie hat mich natürlich sehr gefreut. Ganz besonders, weil unsere Entwicklung ja kein klassisches Pharmakon ist. Die Anerkennung vonseiten der Industrie dafür bestärkt uns in unserem Ansatz, dass auch Bewegungstraining wie ein Medikament wirken kann. Ein solches Projekt zu honorieren zeigt auch eine Wende hinsichtlich des Stellenwerts der Sportmedizin innerhalb der Onkologie. Ich bin gespannt, wie weit uns die Kombination sportmedizinischer Erkenntnisse mit den Vorteilen der Digitalisierung auf diesem Weg noch bringt, und hoffe, dass künftig mehr derartige Projekte umgesetzt und evaluiert werden können.
Interview: Uschi Sorz, https://www.ingo-news.at/forschung/heartfish-uro-oncology-app.html